Der Salon des kleinen Mannes

Was dem gebildeten Bürgertum des neunzehnten Jahrhunderts sein Salon war, ist dem vom Proll mit Klo auf halber Treppe zum Kleinbürger mit Eigenheim aufgestiegenen Ruhrmenschen der Partykeller - der Salon des kleinen Mannes. Unsere Familie hatte keinen. Wir fielen in die dritte Kategorie: Handwerker mit Schrebergarten, aber das ist, im wahrsten Sinne, eine andere Geschichte.

Die Gestaltung des unterirdischen Festareals ließ bisweilen besorgniserregende Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur seiner Betreiber zu. Grundsätzlich würde ich zwischen drei Arten von Partykellern unterscheiden.

Sehr beliebt war die Variante, die sich im Keller des Reihenendhauses von Pommes' Eltern fand: holzgetäfelt vom Boden bis zur niedrigen Decke, aufgehübscht mit den signierten Autogrammkarten von deutschen Schlagerstars, die Pommes' Vater mit verzweifelter Leidenschaft sammelte. Herr Jendritzki arbeitete bei der Stadtverwaltung im Planungs- und Katasteramt, was wahrscheinlich eine so dröge Angelegenheit war, dass er im Privatleben ein wenig Spannung und Romantik brauchte. Damals habe ich das so hingenommen, aber im Nachhinein macht man sich so seine Gedanken, wenn man sich daran erinnert, wie ein verheirateter Mann umflorten Blickes mit den Fingern über ein unterschriebenes Porträtfoto von Freddy Breck streicht. Überhaupt waren die Männer in dieser Sammlung eindeutig in der Überzahl: Rex Gildo, Roy Black, Costa Cordalis, Bernd Clüver, Erik Silvester, Bata Ilic. Von Letzterem dachte ich lange, er verkaufe eigentlich Schuhe, weil es an der Hans-Böckler-Straße ein Schuhgeschäft »Bata« gab. Und dann hatte er auch noch »Sand in den Schuhen aus Hawaii«! Aber na gut, er war mit seiner Bala-lala-leika auch der König von Jamaika und betrieb trotzdem keine Musikalienhandlung.

Das Foto von Cindy und Bert markierte die Schnittstelle, und an Frauen fanden sich solche Granaten wie die Erfinderin des Drogentodschlagers, Juliane Werding. Oder auch Nana Mouskouri, die mit ihrer maskulinen Hornbrille auch schon wieder neben den mit seiner Haartolle eher feminin wirkenden Freddy Breck gepasst hätte.

Diesen Partykeller tagsüber quasi als Museum anzuschauen hatte schon was Perverses. Pommes' Eltern mit Freunden darin feiern zu sehen, war unheimlich. Leider erinnere ich mich noch sehr deutlich an den April 1980. Im Jen-dritzki'schen Wohnzimmer gaben Spüli, Pommes, Mücke und ich uns die Rocknacht mit The Blues Band, Joan Armatrading und Ian Hunter. Während Paul Jones sein »BOOM! BOOM!« in die Grugahalle brüllte und das Publikum vor der Bühne sowie vier pubertierende Jungs vor einem Fernseher in Bochum »OUT GO THE LIGHTS!« antworteten, cool mit dem Kopf wippten und in abgehangener Professionalität imaginäre Instrumente bearbeiteten, schwappte über die Kellertreppe ein vielkehliges »Griiiechischer Weiiiin! Ist so wie das Blut der Erde! Schenk noch mal eiiiin!« nach oben. Mit der gleichen Angstlust, die man bei Horrorfilmen empfindet, dachten wir uns: Das muss man gesehen haben! Eine Meinung, die wir revidierten, als wir drei Männer in Socken auf dem Boden sitzen sahen, die sich umarmten und gegenseitig Bier aus einem Stiefelglas einflößten. Einer davon war Pommes' Vater. Spätestens da wurde mir klar: Wenn die Aufregung im Job im reziproken Verhältnis zum Ausflippen auf einer Kellerparty steht, dann kommt eine Verwaltungslaufbahn für mich nicht in Frage.

Strahlte das Fetenverlies der Familie Jendritzki durch den Einsatz heimischer Holzarten noch etwas Warmes aus, hatte der Partykeller der Eltern von Matze Danner den Charme eines Operationssaales. An den Wänden weißer Strukturputz, auf dem Boden quadratische weiße Bodenfliesen, die zur Raummitte ein leichtes Gefälle in Richtung eines Abflusses mit Schmutzfanggitter aufwiesen. Wozu der gut war, machte uns Vater Danner vor der ersten Party, die wir dort feiern durften, in aller Deutlichkeit klar. Er wartete, bis etwa die Hälfte der Gäste erschienen war, und unterwies uns bei ungemütlicher Neonbeleuchtung in der Nutzung des Kellers: »Ihr könnt hier alles machen. Nur keine Kinder, hähä! Also, der Tresen ist mit einem T-Träger im Boden verankert, die Barhocker sind fest montiert auf Stahlsäulen, die einen halben Meter ins Erdreich runterreichen. Ey, hier kann vor dem Haus ne Atombombe hochgehen, dann sind wir alle nicht mal mehr Asche, aber ich sach euch, der Tresen und die Hocker bleiben stehen. Wer beim Tanzen allerdings dagegenfliegt, handelt sich nen Schädelbruch ein! Da hinten das Klo hat ein Kotzbecken. Drunter stehen noch zwei Eimer, die benutzen wir bei unseren Feiern auch immer. Und wenn ihr es bis zum Klo nicht mehr schafft - auch egal. Den ganzen Raum kann man abspritzen. Und neben dem Klo steht auch ne Gummiflitsche, damit könnt ihr alles in den Ausguss schieben und hinterher nur die groben Sachen oben vom Gitter puhlen.«

Wir waren fünfzehn, hatten höchstens zweimal von einem Bier genippt und wussten jetzt mehr, als nötig war. Dann wollte Vater Danner noch wissen, ob wir »Pariser« hätten. Wenn nicht, könne er uns auch da aushelfen, schließlich solle so eine Feier außer Kopfschmerzen nicht auch noch zweibeinige Folgen haben. »Hammwa allet schon erlebt. Oder watt meint ihr, wie unser Matze inne Welt gekommen is?« Mit fünfzehn sind einem Eltern ja immer peinlich, aber Herr Danner, der mit Gebrauchtwagen zweifelhafter Herkunft zu Geld gekommen war, setzte da noch mal ganz neue Maßstäbe.

Als wir dann die Neonbeleuchtung wieder ausgeschaltet und mit farbigen Tüchern über im Raum auf dem Boden verteilten Tischlampen eine adäquate Früh-Achtziger-Feten-Stimmung hergestellt hatten, dauerte es doch eine Weile, bis wir so richtig in Fahrt kamen. Noch beim Klammerblues zu vorgerückter Stunde (was damals etwa 21:30 Uhr hieß) waren wir etwas gehemmt, da wir uns nicht ausmalen wollten, wieso die Gummisohlen unserer Puma-Turnschuhe auf den weißen Fliesen immer wieder festpappten. Wenigstens wurde man nicht von Michael Holm angegrinst, während man versuchte, seine schon bei den ersten Takten irgendeiner Schnulze in Sekundenbruchteilen ausgeklappte Erektion zu verbergen und trotzdem mit der Wange nah genug am Gesicht der Partnerin zu bleiben, falls sie spontan auf die Idee käme, einen dorthin zu küssen. Sicher hätte man auch nichts dagegen gehabt, hätte sie einem die Hände auf den Hintern gelegt, um besagte Erektion an sich zu drücken, und dann wäre es auch egal gewesen, wer dazu gegrinst hätte, aber so was passierte ja nicht mal im Bravo-Fotoroman.

Die dritte Art des Partykellers gab es bei Nicole zu bewundern, die mit ihren Eltern (Vater selbstständiger Versicherungskaufmann, der sich das Büro von seiner Frau führen ließ) in einem Mietshaus in Wiemelhausen wohnte. Hier wurde einfach das familiäre Kellerabteil leer geräumt, was immer eine Heidenarbeit machte, sodass Nicole eher selten Partys gab. Dafür war es dann aber auch schön eng, was dem eigentlich Zweck der Zusammenkünfte, nämlich der körperlichen Annäherung zwischen den Geschlechtern, Vorschub leistete. Da die Hausgemeinschaft einigermaßen entspannt war, durften im Kellergang die Tische mit den Frikadellen und den Nudelsalaten aufgebaut werden. Und auch ein oder zwei Sofas, auf denen man sich vom Tanzen ausruhen und wie zufällig (weil die Dinger aber auch total durchgesessen waren) auf das Ziel seiner Wünsche zurutschen konnte. Wobei »rutschen« auch noch das falsche Wort ist. Man sollte eher von »Zielräkeln« sprechen.

Stimmung kam in die Bude durch eine aus heutiger Sicht steinzeitliche »Lichtorgel«, deren drei Lampen rot, gelb und grün blinkten, wenn auch nicht unbedingt im Takt der Musik. Die wiederum kam aus einer bemerkenswert teuren Anlage, bestehend aus Dual-Plattenspieler, Denon-Verstärker und Yamaha-Boxen, die Nicoles Vater zur Verfügung stellte, um einerseits anzugeben wie ein Teenager und um andererseits einen Grund zu haben, ständig im Keller aufzutauchen, um sich zu versichern, dass der Edel-Anlage nichts passierte.

Mücke gefiel das nicht. »Ich glaub«, sagte er mal bei einer solchen Gelegenheit, »ich pinkel ihm mal in seine teuren Boxen, dann hat er wenigstens einen Grund, so doof zu gucken.«

Glücklicherweise nahm Mücke davon dann doch Abstand und inspizierte dafür die aus dem Keller ausgelagerten Kisten und Kartons, in denen er dann auch auf ein paar alte Familienfotos stieß, die Nicoles Eltern als Anhänger der Freikörperkultur outeten. »Guck dir das an!«, schwärmte Mücke. »Ich würde sagen, du hältst dich an die Tochter und ich mach mal die Mutter klar. Bei dem Schrumpel-Eumel ihres Gatten hat die Frau seit Jahren keinen Spaß mehr gehabt.«

Partys fanden eigentlich ständig statt. Manche in solchen Kellern, andere in Garagen, in Gemeindezentren, beim BdkJ, in Versammlungsräumen der SPD, in der Pausenhalle der Schule, dem elterlichen Schrebergarten oder am Kemnader Stausee. Aber so richtig stilecht waren sie eigentlich nur im Salon des kleinen Mannes.

 

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